01.06.2022
Schildkröten-Abstraktion
Der nahezu halbkugelförmige Panzer einer Schildkröte bildet den Körper eines kleinen Gefäßes. Seine kreisrunde Öffnung sitzt mittig an dessen Oberseite und ist durch einen kleinen Wulst betont; ursprünglich konnte sie vermutlich durch einen flachen, scheibenförmigen Deckel verschlossen werden.
Die zu kleinen Quadern abstrahierten Füßchen schweben knapp über dem Boden. Gleiches gilt für den kurzen Hals und den Kopf, an dem Maul und Augenwülste plastisch angedeutet sind; die Augen werden durch eine kleine Bohrung wiedergegeben. Die Unterseite des Panzers ist völlig glatt und bildet so die Standfläche des Gefäßes.
Kleine, oft figürliche Gefäße aus den verschiedensten Hartgesteinen sind typisch für die „Reichseinigungszeit“, wie die protodynastische Epoche auch genannt wird. Sie dienten als wertvolle „Verpackung“ für ihren kostbaren Inhalt, für verschiedene kosmetische Produkte wie Salben, Öle oder Augenschminke. Diese Gesteine wurden nicht systematisch abgebaut, es waren Fundstücke aus der Ostwüste, die oft wegen einer bestimmten Farbe oder Maserung aufgelesen wurden.
In dieser Epoche, benannt nach dem historischen Prozess des Zusammenwachsens verschiedener kleiner Fürstentümer zum ägyptischen Zentralstaat, liegt nicht nur der Ursprung des differenzierten Beamtentums, es entsteht auch die ägyptische Hieroglyphenschrift, und in der Kunst entwickeln sich die Grundprinzipien von Rundplastik und Flachbild.
Vor allem die Tierdarstellungen bilden einen ersten Höhepunkt der ägyptischen Skulptur mit ihren starken Abstraktionen, wofür diese kleine Schildkröte ein gutes Beispiel darstellt: Mehr kann man die Details von Kopf und Körper nicht reduzieren, da sonst das Gemeinte nicht mehr zu erkennen wäre.
Feldspat
H. 4,3 cm, L. 10, 3 cm
Protodynastisch, „Dynastie 0“, um 3150-3000 v. Chr.
München ÄS 1587
Aus der Sammlung Friedrich Wilhelm von Bissing
(Ausgestellt im Raum „Kunst und Form“)