15.12.2005
Moderne Zeiten für den alten Sudan – Herbstkampagne 2005 in Naga
Nach zehn Jahren Wüste von Januar bis März, von kühlen Winternächten zu sengender Frühlingssonne nun eine Kampagne im Spätherbst mit angenehmen 25° am Abend.
Manches ist anders diesmal. Nach zehn Jahren Wüste von Januar bis März, von kühlen Winternächten zu sengender Frühlingssonne nun eine Kampagne im Spätherbst mit angenehmen 25° am Abend. Der Flug von Frankfurt nach Khartum ohne den lästigen Zwischenstop in Kairo – kaum zur Nachmittagssiesta eingeschlafen, wacht man beim Sonnenuntergang in Khartum auf. Eine renovierte Ankunftshalle, vergnügte Paßbeamten, neue Gepäckwagen (wie schon immer ohne Bakschisch heischende Helfer), keine Zollkontrolle – angenehmer könnte die Ankunft im Sudan nicht sein. Viele Neubauten in Khartum, säuberlich gepflegte Strassen. Die Altertümerverwaltung nun dem Ministry of Culture & Youth & Sport zugeordnet und damit ins Licht des öffentlichen Interesses gerückt. Als Vertretung der Altertümerverwaltung in unserer Grabung eine junge, selbstbewußte Inspektorin, die die Fahrt nach Naga mit pausenlosem Telefonieren und Versenden von SMS beginnt. Beim Einkauf für die Wochen in der Wüste wohl gefüllte Läden (einschließlich Weihnachtskrippen) und ein mittäglicher Verkehrsstau, der noch undurchdringlicher geworden ist als ein halbes Jahr zuvor.
Den Anstoß zu dieser Kampagne zu ungewohnter Zeit hat der Verein zur Förderung des Ägyptischen Museums Berlin gegeben. Seine Bereitschaft, die Freilegung und Restaurierung der Hathor-Kapelle in Naga zu finanzieren, ermöglicht es uns, zusätzlich zur Hauptkampagne einen Sondereinsatz zu unternehmen, der in seiner Programmatik und der sich daraus ergebenden personellen Besetzung das eigentlich Andere, das Neuartige darstellt.
Die Hathor-Kapelle ist das außergewöhnlichste Bauwerk der meroitischen Architektur. In der Verschmelzung von hellenistisch-römischen, pharaonisch-ägyptischen und meroitischen Elementen steht sie für die Funktion des Reiches von Meroe als Bindeglied zwischen der Mittelmeer-Welt und Afrika, ist sie der architektonische Ausdruck eines antiken Nord-Süd-Dialogs. Weit jenseits der Grenzen des römischen Reiches gelegen, ist sie der südliche Extrempunkt des Einflußbereichs des Weltreichs der Cäsaren.
Bislang wurde die Kapelle ins späte 3. Jahrhundert n. Chr. datiert und in der Fachliteratur als „Römischer Kiosk“ geführt. Claude Rilly konnte eine Besucherinschrift, die in kursiven meroitischen Schriftzeichen auf die nördliche Innenwand der Kapelle geschrieben ist, in die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. datieren, so dass der kleine Tempel zeitlich in die direkte Nähe zum nebenan stehenden Löwentempel rückt, der in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. von König Natakamani errichtet wurde. Bei einer Sondage während der Kampagne 2003 fanden wir ein Hathor-Kapitell, das die Funktion des kleinen Tempels als Heiligtum dieser Göttin identifiziert, die auch am Löwentempel dargestellt ist.
Das Bauwerk ist akut einsturzgefährdet. Die beiden obersten Steinlagen sind abgestürzt und liegen ringsum verstreut. Die tonnenschweren Architrave ruhen auf Kapitellen aus weichem Sandstein, die unter dem Druck geborsten sind und auseinander zu fallen drohen. Die Statik ist gestört, der Verbund der Sandsteinblöcke hat sich gelöst. Die Freilegung des unteren, noch knapp einen Meter im Boden steckenden Teils der Kapelle wäre nur unter erheblichen Risiken möglich.
Während der letzten Kampagnen wurde mit dem durch die Zusammenarbeit auf der Museumsinsel bewährten Team von ‚Restaurierung am Oberbaum‘, das mit der Wiedererrichtung der Säulen im Amun-Tempel einen wichtigen Beitrag zur Denkmalpflege im Sudan geleistet hat, eine Konzeption für die Rettung der Hathor-Kapelle entwickelt. Sie geht vom gleichzeitigen Einsatz von Archäologen, Architekten und Restauratoren aus, so dass Ausgrabung, Bauaufnahme und restauratorische Maßnahmen ineinander greifen. Um der generellen Philosophie äußerster Zurückhaltung bei restauratorischen Maßnahmen treu zu bleiben, soll die Hathor-Kapelle als Ruine konserviert werden, also nicht – was durchaus machbar wäre – durch Rekonstruktion in einen perfekten, aber nicht authentischen Urzustand zurück versetzt werden.
Grundlage aller Arbeiten ist die dreidimensionale millimetergenaue Erfassung der Architektur. Das Spezialbüro Objekt Scan aus Potsdam nimmt in nächtlichen Einsätzen mit einem Streifenlicht-Scanner die gesamte Architektur in einem plastischen Modell auf. Die aus Abermillionen Pixeln bestehenden Datensätze erlauben eine mechanische Nachformung einzelner Bauteile in beliebigem Maßstab – vom kleinen Gesamtmodell der Kapelle bis zur 1:1-Replik der Kapitelle. Die originalen Kapitelle werden gefestigt und ihre zahllosen Risse reversibel verklebt. Damit sind sie für eine verlustfreie Abnahme und Verbringung ins Nationalmuseum Khartum vorbereitet. An ihrer Stelle werden in Werkstein gefräste, millimetergenaue Repliken eingesetzt, die die Last der Architrave und der aus den verstürzten Blöcken zusammengesetzten Gesimse aufnehmen. Nach diesem Austausch nicht mehr funktionsfähiger Bauteile gegen stabile Nachformungen wird die Statik der Kapelle durch Ringanker und andere nicht sichtbare Stabilisierungsmaßnahmen wieder hergestellt. Durch die nun gefahrlos durchführbare Freilegung der unteren Zone gewinnt die Kapelle ihre schlanken, hoch aufragenden Proportionen zurück. Die Abtragung des in zwei Jahrtausenden um etwa einen Meter angestiegenen Umfelds legt das antike Niveau frei, das den nahe gelegenen Löwentempel einbezieht.
Schon die ersten Tage der fünfwöchigen Kampagne zeigen die hohe Effizienz der engen Zusammenarbeit qualifizierter Spezialisten. Bei Grabung, Bauaufnahme und Restaurierung auftauchende Fragen können sofort diskutiert und kompetent entschieden werden. Wenn mit Sonnenuntergang die Feldarbeit zu Ende geht, beginnt der Generator die abendliche Wüstenruhe zu stören; nun tritt der Scanner in Aktion, der bis weit nach Mitternacht gespenstische Lichtblitze auf die Tempelwände wirft. Schon am nächsten Morgen sehen wir ein weiteres Stück Architektur auf dem Monitor, das sich nach allen Seiten drehen und wenden und kippen läßt. Die Moderne hat Einzug gehalten in der Archäologie des Sudan – mit der klaren Zielsetzung, die Antike unverfälscht der Zukunft zu überliefern.
Wir diskutieren nicht nur die wissenschaftlichen Aspekte dieser neuen Technologie, sondern lassen der Phantasie freien Lauf, entwickeln kühne Marketing-Konzepte: Hathor-Kapellen en miniature zum Verkauf im Museumsladen und ein 1.1-Modell auf dem Schloßplatz gegenüber dem Alten Museum.
Die Freilegung und Bergung der verstürzten Architekturteile versetzt uns täglich in neues Staunen. Über Uräenfriesen setzen Torbogen an, die an frühchristliche Kirchen, am Rom und Ravenna denken lassen. In barockem Überfluß bietet diese Architektur eine meroitische Postmoderne, die sich eklektizistsich in der Architektur Ägyptens und Roms bedient und ein einzigartiges Kompendium antiker Architekturformen bietet.
Der Verein zur Förderung des Ägyptischen Museums Berlin steht mit seiner Förderung dieses Projektes in wahrhaft königlicher Tradition: Vor 160 Jahren hat Friedrich Wilhelm IV. durch seine Förderung der preußischen Expedition den Anstoß zur wissenschaftlichen Erforschung des antiken Sudan gegeben. Heute sind wir in die Lage versetzt, mit modernsten Methoden und Verfahren und einer zukunftweisenden Konzeption Standards in der Archäologie und Denkmalpflege des Sudan zu setzen.
Dietrich Wildung (Artikel der Mitgliederzeitschrift aMun)