15.06.2020
„Adam, wo bist du?“
Eine Kunstinstallation von Ilana Lewitan
Das Staatliche Museum Ägyptischer Kunst zeigt ab Mittwoch, 17. Juni 2020, die großflächige Installation „Adam, wo bist Du?“ der Münchner Künstlerin Ilana Lewitan. Auf 400 Quadratmetern erkundet die Künstlerin in verschiedenen Stationen das Verhältnis von individueller Identität und den Zuschreibungen durch die Umwelt. Wer bin ich? Wer oder was bin ich in den Augen der Anderen, weil ich als der geboren bin, der ich bin? Wie fühlt sich diese Zu-Schreibung von außen an?
Am Beispiel vornehmlich jüdischer Biografien vergegenwärtigt die Installation, wie Ausgrenzung und Stigmatisierung funktionieren und schon immer funktioniert haben. Gemeinsamkeiten und Bruchstellen zwischen Vertrautem und Fremdem, zwischen In- und Ausländern, zwischen Migranten und Einheimischen, zwischen Privilegierten und Benachteiligten werden unmittelbar erlebbar und kulminieren in der zentralen Frage nach der Menschlichkeit des Menschen: „Adam, wo bist Du?“
Die Installation
Die Installation besteht aus verschiedenen Stationen, die die Besucher:innen begehen. Ausgangspunkt ist die provozierende Frage von Ilana Lewitan: „Stellen Sie sich vor, Jesus hätte 1938 im Dritten Reich gelebt. Was wäre mit ihm geschehen?“ Als Präambel dominiert ein fiktiver Schutzhaftbefehl aus dem Dritten Reich: Gesucht wird der Jude Jehoshua Israel ben Joseph, geboren am 24.12.1908 in Bethlehem/Nazareth, ein staatenloser Wanderprediger. Sein Verhalten gefährde den Bestand und die Sicherheit des Volkes; sollte er auf freiem Fuß belassen werden, würde er seine staatsfeindliche Tätigkeit fortsetzen. Jesus ist hier kein Religionsgründer, kein Schriftgelehrter. Er ist Jude und damit auf eine Rolle festgelegt, die den Umgang mit ihm definiert. Damit beginnt ein partizipativer Weg durch die Installation, eine Erfahrung, für die stellvertretend die Schreibmaschine steht, mit der dieser Schutzhaftbefehl ausgestellt hätte werden können.
Würfel und Video
Es ist eine Versuchsanordnung und ein Erlebnisraum, in dem überdimensionale Würfel das Prinzip des Zufalls zweifach verkörpern, wann und wo man geboren wird – und wer überlebt. Auf allen Seiten der Würfel sind Jahreszahlen abgebildet, die an konkrete tragische Ereignisse in der jüdischen Geschichte erinnern von der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 über die Ausweisung aller Juden aus England 1290 bis zum Massenmord in Babi Yar bei Kiew 1941. Filmische Sequenzen kommentieren darüber hinaus die fatale Konsequenz aus der Zuschreibung als Jude in unserer Gesellschaft bis heute. Indem Ilana Lewitan so Vergangenheit und Gegenwart verknüpft, weist sie darauf hin, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit weiterhin existiert.
Die Interviews – Erfahrung teilen
Die Künstlerin hat zehn Hör- und Sehstationen in historische Verbandskästen aus aller Welt montiert. Sie laden ein, sich in Interviews die Geschichten von Menschen erzählen zu lassen, die Zuschreibungen von außen als besondere biographische Herausforderungen oder gar Katastrophen erfahren haben und teilweise immer noch erleben. Dazu zählen u.a. Max Mannheimer (1920–2016), Charlotte Knobloch (*1932) oder der Münchner Rabbiner Brandt (*1927) ebenso wie ein blinder Mensch (Aleksander Pavkovic, geb. 1976), eine Transgender (Bela Adriana Raba, geb. 1972 in München) oder ein Flüchtling (Mohammed Ali Mosavi geb. 2000 im Iran).
Von der Erfahrung von Ausgrenzung bis zum Kreuz als Symbol mit vielen Bedeutungen
Eine Station lässt die Besucher*innen selbst nachvollziehen, wie banale Einordnungen der willkürlichen Ausgrenzung Tür und Tor öffnen: Wo gehöre ich hin? – Nicht jeder Stuhl ist jedem zugänglich, die Berechtigung, sich zu setzen, hat nichts mit der eigenen Person zu tun, sondern „passiert“ einem gleichsam von außen. Eine Treppe führt weiter zu einem gelben Cube, auf dem sich erst bei näherem Hinsehen chiffrierte Kennzeichnungen für Juden zu erkennen geben. Ein Blick ins Innere rekurriert ebenso auf diese notwendige Kenntnis der eingeschriebenen Codierung, um sie als solche zu verstehen: Wann wird ein Stück Stoff ein „Judenstern“?
Der Weg durch die Installation endet schließlich am großformatigen Fluchtpunkt, einem Kreuz, in dem die Fragen kulminieren, die die Installation aufwirft: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Kedoshim Lev. 19, 18). Die Botschaft ist in hebräischer, griechischer, lateinischer, sowie deutscher und englischer Sprache stets die gleiche.
Umrahmt wird die gesamte Kunstinstallation von einem musikalischen Dialog zwischen dem französischen Elektrokomponisten Philippe Cohen Solal und dem israelischen Dirigenten und Akkordeonisten Omer Meir Wellber. Die Musik verbindet Jenseits, Gegenwart und Zukunft und bringt die westliche und östliche Welt zusammen. Fragmente menschlicher Stimmen, sphärische Sounds und elektronische Klänge umkreisen die Frage der Künstlerin nach der Identität.
(Das Musikstück – Dauer ca. 20 Minuten – startet jeweils zur vollen Stunde).
Interventionen in der Dauerausstellung
Die Installation greift aus dem Sonderausstellungssaal hinaus in die Dauerausstellung des Staatlichen Museums Ägyptischer Kunst und spielt mit den doppelten Zuschreibungen in den verschiedenen Kulturen. Insgesamt zwölf (Kunst-)Objekte von Ilana Lewitan dringen in die Räume und Vitrinen zwischen die altägyptischen Originale ein und treten in Dialog mit der jahrtausendealten Kunst und Kultur. Jüdische Geschichte und das Alte Ägypten sind durch Altes und Neues Testament vielfach miteinander verknüpft. Moses etwa führt sein Volk aus dem Land Pharaos. Das Kreuz – Zeichen für das Martyrium, aber auch für die Überwindung des Todes – ist ikonographisch verwandt mit dem altägyptischen Anch-Zeichen, Hieroglyphe für das Leben. Die frühen Christen In Ägypten sahen im Kreuz das ihnen wohlvertraute Anch-Zeichen und verstanden es als Symbol des Lebens.
Installation auf belastetem Boden
Ein direkter Bezug in der jüngeren Geschichte gab für das Ägyptische Museum den Impuls für diese Sonderausstellung: Am heutigen Standort des Museums plante Hitler einen Kanzleibau. Die unterirdischen Bunkeranlagen aus vier Meter dicken Stahlbetonwänden waren während des Zweiten Weltkrieges fertiggestellt worden und mussten vor dem Neubau von Museums und Filmhochschule aufwändig gesprengt werden. Direktorin Dr. Sylvia Schoske war die Ausstellung im kulturgeschichtlichen Kontext daher ein Anliegen für ihr Haus: „Auf diesem historisch belasteten Boden mit einer jüdischen Künstlerin zu arbeiten, die der Frage nach der eigenen Identität nachgeht, war für das Museum eine zentrale Motivation, diese Ausstellung zu produzieren.“
Die Künstlerin
Ilana Lewitan wurde 1961 in München geboren. Als Tochter polnischer Shoah-Überlebender kennt sie die Zufälligkeit von selbstbestimmter und zugewiesener Identität: Im Gegensatz zu ihren Eltern hatte sie das Glück, zufällig „in der richtigen Zeit“ geboren zu sein, in der ihre jüdische Religionszugehörigkeit kein Problem oder gar eine Bedrohung darstellte. Dennoch wurde sie sich bald der Zuschreibungen von außen bewusst, umso mehr, als ihr klar wurde, dass der ans Kreuz genagelte Jesus ein Jude war, wie eng sich Christentum und Judentum aufeinander beziehen. Daraus entstand der Gedanke zu dieser Installation.
Ilana Lewitan studierte Innenarchitektur und Architektur an der TU München. Von 1988 bis 1992 arbeitete sie als Architektin und freie Illustratorin in New York, u.a. bei Richard Meier Architects & Partners und Dakota Jackson. Anschließend studierte sie bei Hans Daucher und Markus Lüpertz Malerei. Seit 1995 ist sie freischaffende Künstlerin. Seit 2012 ist sie auch als Dozentin tätig. Ilana Lewitan lebt und arbeitet in München.
Katalog und Leporello
Zur Ausstellung erscheint ein reich bebilderter Katalog (106 Seiten); das Leporello führt zu den Interventionen in der Dauerausstellung (kostenlos).
Der Besuch der Sonderausstellung ist im Eintrittspreis inbegriffen.