07.01.2025
Im Jahr der Schlange
Ein meroitischer Trinkbecher
Die hohe Qualität der keramischen Produktion ist ein Charakteristikum der antiken Kulturen von Nubien und Sudan vom Neolithikum (7./6. Jahrtausend v. Chr.) bis in die spät- und nachmeroitische Zeit (1. Jahrtausend n. Chr.) hinein. Ihre Eigenständigkeit drückt sich sowohl in den Formen, der Bearbeitung der Oberfläche wie auch in ihrer Dekoration aus, die oftmals eine Entsprechung in afrikanischer Ware findet und damit die kulturellen Wurzeln Nubiens in Afrika bezeugt. Anders formuliert: Die Rolle des antiken Sudan als Kulturbrücke zwischen Afrika und Ägypten – und darüber hinaus bis in den mediterranen Raum – lässt sich im Medium der Keramik über mehr als fünf Jahrtausende zurückverfolgen.
In meroitischer Zeit (300 v. Chr. – 320 n. Chr.) lassen sich Produktionszentren und Werkstätten identifizieren, und sogar die Handschrift einzelner Maler ist erkennbar. Das Repertoire der Dekoration enthält ägyptische Symbole und Pflanzenmuster und verwendet daneben hellenistische Elemente. Darüber hinaus entwickelt sich eine autonome Bildsprache von hoher Qualität, die es ermöglicht, unschwer meroitische Keramik zu identifizieren.
Kleine, steilwandige Becher mit kleiner Standfläche und extrem dünner Wandung zählen zu den gängigen Typen meroitischer Keramik. Neben pflanzlichem Dekor, wie er im gesamten Mittelmeerraum zu finden ist, gibt es auch ägyptisierende Motive wie Lotos und Papyrus. Zu Symbolen gewordene Hieroglyphen wie das „Anch“-(Lebens-) oder das „Sa“-(Schutz-)Zeichen treten ebenso auf wie ägyptische Gottheiten, etwa die Himmelsgöttin Hathor.
Nahezu die gesamte senkrechte Wandung des kleinen Bechers dient als Bildfeld, das durch zwei umlaufende waagerechte Linien in schwarzer Farbe definiert ist: Eine verläuft oben knapp unterhalb des Gefäßrandes, die andere betont unten den Knick in der Wandung hin zum kleinen Standfuß. In dieses Register ist umlaufend eine Schlange gesetzt, deren Körper in Windungen das ganze Gefäß umgibt, so dass ihr Kopf auf den Schwanz trifft. Die Schuppen der Schlangenhaut sind durch schwarze Punkte wiedergegeben. Der Kopf ist durch einen breiten schwarzen Strich abgetrennt, die Pupille im kreisförmigen Auge durch einen Punkt markiert. Die Zunge ist einfach die Fortsetzung des linienförmigen Maules, ihre Spitze geht in ein Anch-Zeichen über. Weitere, etwas schlichtere Lebens-Zeichen sind in die Windungen des Schlangenkörpers eingepasst und stehen entweder auf ihm oder auf der Grundlinie. Ihr oberer Teil ist rot gefasst.
Die Schlange hat in Ägypten und im Alten Orient ein breites Spektrum an Bedeutungen, die – wie bei nahezu allen Tieren – ambivalent sind: Sie verkörpert sowohl positive wie negative Mächte. Als Uräus an der Stirn des Königs vertreibt sie die Feinde Pharaos; zwei Uräusschlangen umrahmen schützend die senkrecht stehende Kartusche, das Oval, in das der Name des Königs eingeschrieben ist. Auch die Sonnenscheibe wird von zwei Uräusschlangen umgeben. Zwölf Schlangen bewachen die Tore zur Unterwelt. Auf dem meroitischen Becher kennzeichnen die der Schlange beigegebenen Lebens-Zeichen sie eindeutig als positives, übelabwehrendes Wesen, die den Inhalt des Gefäßes schützt.
Seit dem Mittleren Reich ist die Schlange das Determinativ weiblicher Götternamen. In der schlangengestaltigen Erntegöttin Renenutet wird auf Fruchtbarkeit und Regeneration verwiesen, als Meretseger ist eine Schlangengöttin die Schutzgottheit der thebanischen Nekropole, und als Uto die Landesgöttin von Unterägypten. In der klassischen „Erzählung eines Schiffbrüchigen“ ist eine goldene Schlange das allwissende göttliche Wesen.
Andererseits verkörpert die Schlange Apophis als Feind des Sonnengottes das Böse schlechthin und muss stets aufs Neue als chaotische Macht bekämpft werden. Eines der vielen dafür verwendeten Bilder zeigt im Totenbuch den Sonnengott als „Großen Kater von Heliopolis“, der mit einem riesigen Messer eine Schlange zerteilt.
Die Häutung der Schlange ließ sie zu einem Sinnbild des sich immer wieder erneuernden Lebens und damit auch von Zeit und Ewigkeit werden, verbildlicht im Symbol des Ouroboros: eine Schlange, die sich zum Kreis formt, indem sie ihren Schwanz in den Mund nimmt. Zum ersten Mal erscheint dieses Motiv im Neuen Reich, auf einem der Schreine im Grab des Tutanchamun. Wenig später umschließt der Ouroboros den jugendlichen Sonnengott, der als nacktes Kind auf dem Boden hockt, er verkörpert also auch ein solares Thema.
Der Ouroboros, der Anfang und Ende miteinander verknüpft, ist das Symbol der zyklischen Zeitvorstellung der Ägypter, die ihren Ursprung in der Beobachtung der Natur und ihrem immer wiederkehrenden Rhythmus hatte: dem täglichen Auf- und Untergang der Sonne, der jährlichen Wiederkehr der Nilüberschwemmung, dem Werden und Vergehen jedweder Pflanzen und Lebewesen.
Das Motiv der Schlange spielt weltweit eine Rolle, in der nordischen Mythologie als Midgardschlange ebenso wie bei afrikanischen Völkern. Im chinesischen Kalender taucht die Schlange als eines der Tierkreiszeichen auf, dort werden ihr Weisheit und Intelligenz und eine große Beobachtungsgabe zugeschrieben, sie ist ehrgeizig und zielstrebig, aber auch misstrauisch und rätselhaft: Das Jahr der Schlange ist 2025, es beginnt am 29. Januar und endet am 16. Februar 2026!
Ton
H. 7,5 cm, ø 8.5 cm
Meroitische Zeit, 1.-2. Jhdt. n. Chr.
Inv.Nr. ÄS 4550
Aus der Sammlung Friedrich Wilhelm Freiherr von Bissng (T 1246)
(ausgestellt im Raum „Nubien und Sudan“)