03.12.2024
Göttlicher Bote
Eine Figur des Thot aus Fayence
Thot ist eine der Universalgottheiten des alten Ägypten. Daher hat er einen umfassenden Zuständigkeitsbereich: Er hat Sprache und Schrift erfunden, die Mathematik entwickelt und ist für alle Arten von Messungen zuständig. Auch die Geschichtsschreibung, die Gesetzeskunde und die Zeitrechnung gehen auf ihn zurück. Als Orakelgottheit kann Thot auch einen Blick in die Zukunft werfen, er berechnet die Lebenszeit und bestimmt damit das Schicksal des Menschen.
Als zauberkundiger Gott wird Thot, der alle geheimen Schriften und die zur Heilung der Kranken notwendigen Zauberformeln und magische Praktiken kennt, zum Schutzherrn und
Berufsgott der Ärzte und Schreiber, die ihm vor Beginn ihrer Tätigkeit eine Wasserspende darbringen. Er wird selbst zum Schreiber der Gottesworte, kennt alle Rituale und fungiert daher als leitender Priester. Er ist der „Herr der Maat“, der Weltordnung und Gerechtigkeit, und überwacht die Wägung des Herzens beim Jenseitsgericht und protokolliert das Ergebnis auf einem Papyrus.
Thot verfasst auch selbst medizinische und astronomische Texte und ist als „Herr der Zeit“ ebenso für das Kalenderwesen zuständig. Da dieses in Ägypten auf den Mond gründet, ist Thot auch eine der Mondgottheiten. In dieser Funktion wird Thot als ein auf dem Boden hockender Pavian dargestellt, der als Kopfputz die Mondscheibe in der Mondsichel trägt. Der Pavian ist also neben dem Ibis seine tierische Erscheinungsform.
Die Statuette zeigt Thot in Gestalt eines in Schrittstellung stehenden Mannes auf einer längsrechteckigen Basis mit Rückenpfeiler, die ausgestreckten Arme liegen am Körper an. Statt eines menschlichen Kopfes trägt er den Kopf eines Ibis, wobei der anatomisch schwierige Übergang von Vogelhals zu Menschenkörper durch eine Strähnenperücke kaschiert wird. Bekleidet ist er mit einem kurzen, plissierten Schurz.
Der Rückenpfeiler ist in Höhe der Oberkörper quer durchbohrt, wodurch die Funktion der kleinen Figur als Amulett festgelegt ist. Amulette wurden, an einer Schnur oder Kette aufgefädelt, als Halsschmuck getragen; ebenso wurden sie Verstorbenen mit in die Mumienbinden gewickelt oder der Mumie auf die Brust gelegt, um die Unversehrtheit des Körpers zu garantieren. Darüber hinaus wurden Amulette im häuslichen Bereich an die Wand gehängt, etwa über der Schlafstätte eines Kindes oder neben dem Bett, um den Schlafenden zu schützen und seine Träume zu bewachen.
Da Thot den Willen der Götter kennt, wird er zum Verkünder der Gottesworte, die schnell in alle Himmelsrichtungen verkündet werden müssen. Götterboten sind daher stets geflügelte Wesen, in Ägypten etwa Vögel wie der Ibis des Thot, in Griechenland und Rom Hermes und Merkur mit geflügeltem Helm und Flügelschuhen. Und im Alten und Neuen Testament, also in Judentum und Christentum, treten Engel als Übermittler des göttlichen Willens auf.
Thot als Verkünder des göttlichen Willens tritt auch in der sogenannten „Geburtslegende“ auf, dem Mythos von der göttlichen Abkunft Pharaos: Der ägyptische König versteht sich als Sohn eines göttlichen Vaters, er ist der von einem Gott gezeugte Menschensohn; seine Mutter ist irdischer Herkunft, sie ist die „Große Königliche Gemahlin“ des regierenden Herrschers. Und es ist Thot, der ihr den Besuch des Gottes Amun ankündigt und seinen Willen verkündet, mit ihr den künftigen Thronfolger zu zeugen.
Das Mysterium dieser göttlichen Vaterschaft wird schon für die Pharaonen der 5. Dynastie um 2400 v. Chr. in einem literarischen Text, dem Papyrus Westcar, beschrieben. Im Neuen Reich findet es seinen bildlichen Niederschlag in Reliefzyklen in den Tempeln der Hatschepsut in Deir el Bahari (die daraus die Legitimation ihres Königtums ableitet) und Amenophis’ III. in Luxor. In ptolemäisch-römischer Zeit werden für die Darstellung der göttlichen Abstammung Pharaos eigene Heiligtümer errichtet, die Mamisi; Reliefzyklen und hieroglyphische Inschriften ihrer Wände erzählen eine Geschichte, die mit dem Entschluß des Amun beginnt, mit der irdischen Königin einen Sohn zu zeugen, und deren Ende die Vorstellung des Neugeborenen im Tempel vor einem Götterkollegium bildet. Dem Zeugungsakt geht das Bild voran, in dem der Götterbote Thot der Königin den Besuch des göttlichen Vaters ankündigt.
Die Analogien des altägyptischen Mythos zur Geburtsgeschichte im Neuen Testament (Lukas 1, 26 ff.) sind offensichtlich.
Fayence
H. 7,9 cm, Br. 1,8 cm, T. 2,8 cm
Spätzeit, 26.-30. Dynastie, 600-350 v. Chr.
Inv.Nr. ÄS 556
(ausgestellt im Raum „Schrift und Text“)