08.11.2024

Gefesselt

Ein Spielstein aus Fayence

Kniende Figur eines Mannes mit auf dem Rücken gefesslten Händen aus hellblauer Fayence© SMÄK, M. Franke

Die kleine Figur zeigt einen auf seinen Fersen hockenden Mann, der auf einer runden Basis kniet. Seine beiden Hände liegen, zur Faust geballt, nebeneinander auf der Brust. Bekleidet ist er mit einem plissierten, gegürteten Schurz; er trägt eine Kurzhaarfrisur. Seine Oberarme sind mit einem Strick auf dem Rücken zusammengebunden. Trotz seines kleinen Formats ist das Figürchen sehr detailreich gearbeitet, was sich etwa in den Falten des Schurzes oder in den Drehungen des Seils zeigt.

Das Motiv eines gefesselten Mannes – kniend oder stehend – ist in Ägypten in Szenen der Feindvernichtung, von der späten Vorgeschichte bis in die römische Zeit vielfach belegt, auch in einer rundplastischen Version. Dabei tritt meist der König als Akteur auf, der einen oder mehrere Gefesselte mit einer Keule oder einem Krummschwert zu erschlagen droht oder mit einer Lanze durchbohrt. Dieses Motiv zeigt den ägyptischen König als „Herrn der Welt“, beschützt die Landesgrenzen auf Stelen oder Felsbildern und ziert riesengroß die Torbauten, die Pylone ägyptischer Tempel. En miniature ist es auf Skarabäen zu finden, die zu Propagandazwecken im Ausland verbreitet wurden.

In einem wichtigen Detail unterscheiden sich jedoch die Gefesselten aus den Szenen der Feindvernichtung von diesem Figürchen: Sie sind in ihrer Ikonographie deutlich als Ausländer gekennzeichnet, sie tragen fremdartige Kleidung, unägyptische Haar- und Barttracht, haben eine rote (Libyer), gelbe (Vorderasiat) oder schwarze Hautfarbe im Gegensatz zum braunen Teint des Ägypters, und auch ihre Physiognomie weist sie als Angehörige eines „Fremdlandes“ aus.

Nichts davon ist hier zu finden, es handelt sich also um die Darstellung eines gefesselten Ägypters oder noch neutraler um einen gefesselten Menschen. Der gesamte Kontext der königlichen Selbstdarstellung entfällt, die Erklärung für dieses Motiv ist anderswo zu suchen.

Nach – wenigen – Parallelen ist die kleine Kniefigur als Spielstein zu identifizieren, die beim „20-Felder-Spiel“ eingesetzt wurde. Dieses Brettspiel ist auch als „Königliches Spiel von Ur“ bekannt, benannt nach einem Fund in der sumerischen Stadt in Mesopotamien (heute Irak) aus der Zeit um 2600 v. Chr. Rund 1000 Jahre später, in der Hyksos-Zeit, gelangte das Spiel dann auch nach Ägypten. Dort war seit der frühdynastischen Epoche (ca. seit 3000 v.Chr.) das Senet-Spiel bekannt, das auf 30 Feldern gespielt wurde.

Beiden Spielen ist gemeinsam, dass sie von zwei einander gegenüber sitzenden Personen gespielt wurden und etliche Spielfelder mit verschiedenen Symbolen verziert waren, die je nach Spielverlauf Glück oder Unglück brachten. Die rechteckigen Spielbretter – eigentlich waren es kleine Kästchen, oft mit einer Schublade zur Aufbewahrung der Spielsteine versehen, waren aus Keramik, Holz, Elfenbein oder Fayence. Häufig war auf der Oberseite das Senet-Spiel und auf der Unterseite das „20-Felder-Spiel“ zu finden. Die Spielsteine waren aus denselben Materialien, sie hatten Kegel- oder Pilzform, es gab Astragale (Tierknochen), runde Plättchen, kleine Spulen, verschiedene Würfel und kleine Tierfiguren (Löwen).

Besonders aufwändig gestaltet waren die Figuren beim „Hunde-und-Schakal-Spiel“, das mit kleinen Stäbchen gespielt wurde, die in Löcher im Spielbrett gesteckt wurden. Es ist benannt nach diesen beiden Tieren, deren Köpfe den oberen Abschluss der Stifte bildeten.

Ein weiteres Brettspiel ist das Mehen-Spiel, dessen Brett wie eine zusammengerollte Schlange gestaltet war. Sein Name verweist auf die Schlangengottheit Mehen, die den Sonnengott Re beschützt. Auch dieses Spiel ist seit der Frühzeit bekannt, wird in den Pyramidentexten erwähnt und war vor allem im Alten Reich beliebt.

Zunächst wurden Szenen mit Brettspielen in den Malereien und Reliefs der Beamtengräber dargestellt, oft im Kontext von Festen und Banketten, was auf ihre gesellschaftliche Bedeutung und ihren Einsatz im Alltagsleben verweist. Im Neuen Reich wandelt sich dies allmählich, die Darstellung des Verstorbenen vor einem Senet-Spiel, das auf einem Tisch vor ihm steht, wird in die Illustrationen der Jenseitsliteratur aufgenommen und taucht in der Illustration zum Totenbuch-Spruch 17 auf, der auch explizit dieses Brettspiel erwähnt – was möglicherweise für ein glückliches Dasein stehen könnte.

In diesem Kontext wird das Senet nur noch von einer Person gespielt – dem oder der Verstorbenen. Muss man eine Partie gewinnen, um unbeschadet ins Jenseits gelangen zu können? Bietet der Gewinn des Spiels die Garantie für die ewige jenseitige Existenz?

Und in den Illustrationen königlicher Jenseitsbücher tauchen auch gefesselte Figuren auf – als Darstellungen von Verdammten – , die in ihrer Ikonographie der kleinen Spielfigur aus Fayence gleichen. Möglicherweise gehörte sie ursprünglich zu einem Spiel, das nicht für den Gebrauch im Alltagsleben, sondern von vornherein als Grabbeigabe bestimmt war.

Fayence
H. 4,7 cm, ø Basis 3,2 cm
Neues Reich, 18./19. Dynastie, 1400-1100 v. Chr.
Inv.Nr. ÄS 5584
(ausgestellt im Raum „Pharao“)